Beschreibung
Der französische Soziologe Daniel Bertaux hat den biographischen Ansatz wieder in die Soziologie eingeführt. Sein methodisches Grundsatzwerk Le récit de vie liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Er zeigt darin einen kreativen Weg auf, wie in ethnographischen Interviews erhobene Lebenserzählungen mit Hilfe kontrastiver Vergleiche soziologische Erkenntnismöglichkeiten eröffnen. Durch sie lassen sich die Funktionsweise sozialer Phänomene wie sozialer Welten, sozialer Situationen und sozialer Abläufe erfassen und verstehen. Das Buch stellt den gesamten Prozess der Erforschung sozialer Felder in seinen verschiedenen Stadien von der Erhebung bis zur Analyse von Lebenserzählungen konzise dar.
Daniel Bertaux schreibt zur deutschen Übersetzung seines kreativen Grundsatzwerkes „Le récit de vie“: „Manche SozialwissenschaftlerInnen, darunter gerade auch deutsche, tendieren dazu, im Interview geschöpfte Lebenserzählungen so zu analysieren, als ob es sich bei ihnen ausschließlich um Erzähltexte handele. Sie richten ihre Analyse deshalb vornehmlich auf die subjektiven Bedeutungen, welche die Erzählpersonen im Kopf haben, und weniger – oder gar überhaupt nicht – auf die Informationen über die Außenwelt, die solche Interview-Lebenserzählungen vermitteln: auf die soziale Welt „da draußen“. Im Gegensatz dazu richtet sich meine Forschungsanstrengung stets darauf, zu untersuchen und zu verstehen, wie der jeweils soziologisch untersuchte soziale Gegenstandsbereich „da draußen“ funktioniert: d.h. das zuvor ethnographisch abgegrenzte Stück im sozialen Gesamtmosaik der Gesellschaft, wie es ein soziales Milieu oder eine soziale Welt (z. B. die handwerkliche Bäckerei in Frankreich, deren Akteure und Familienmitglieder rd. 1% der französischen Bevölkerung ausmachen), wie es eine strukturell bedingte soziale Situation (z. B. alleinerziehender Mütter in Armut) oder wie es ein sozialer Ablauf, d.h. ein schicksalhafter kollektiv-soziobiographischer Prozess mit seinen strukturellen Hürden, Erschwernissen und Krisen (wie die Flucht syrischer Flüchtlinge, die im Jahre 2015 nach Deutschland kamen), darstellt.
Es handelt sich bei meinem Ansatz also eher um einen „objektivistischen“ oder „realistischen“ soziologischen Ansatz im Gegensatz zu einem Ansatz, der sich auf die Bedeutungsmuster und Interpretationen im Kopf der erzählenden Informanten richtet. Ich habe immer an der Möglichkeit der genauen Bestimmung der „Wahrheitswerte“ von Einzelautobiographien gezweifelt, die im „interpretive turn“ der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung der letzten vierzig Jahre propagiert worden sind. – Stattdessen können verschiedene ethnographisch gezielt erhobene und kontrastiv verglichene Lebenserzählungen, die von Informanten in einem abgegrenzten sozialen Feld gewonnen wurden, den Wahrheitswert von autobiographischen Interviewdarstellungen im kontrastiven Vergleich dramatisch erhöhen.“
Aus dem Inhalt:
- Die ethnosoziologische Sicht
- Die Lebenserzählung
- Die drei Funktionen der Lebenserzählungen
- Die Erhebung lebensgeschichtlicher Erzählungen
- Die Analyse – Fall für Fall
- Die vergleichende Analyse
- Verschriftlichung und Ergebnisdarstellung
Der Autor:
Dr. Daniel Bertaux, emeritierter Forschungsleiter am CNRS, Centre National de la Recherche Scientifique, Paris sowie Mitglied des Laboratoire Dynamiques Européennes (DynamE), Universität Straßburg, Frankreich
Hier finden Sie den Waschzettel zum Buch (pdf- Infoblatt).
Zielgruppen:
Studierende, Lehrende und Forschende der Soziologie und Biographieforschung
Jan –
Zunächst ist es schön zu sehen, das in letzter Zeit immer mehr französische Veröffentlichungen auch den Weg in die deutsche Sprache finden – ein Weg, der hoffentlich weiter gegangen werden wird! In der hier vorliegenden Übersetzung des Werkes von Daniel Bertaux wird, trotz der kompaktheit des Werkes, eingehend dem Begriff der Biographie gewidmet. Dies erfolgt zu großen Teilen auf einem empirischen Weg, d.h. in der Gegenüberstellung von Methoden und vorallem der Erklärung einer biographischen Forschungshaltung – wie es der Titel schon sagt – der Lebenserzählung. Dieses Buch eignet sich daher für jede interessierte Person, die sich eingehender mit speziellen qualitativen Verfahren auseinandersetzen möchte, aber beispielsweise auch für Personen, die auf biographischen Feldern beratend tätig sind. Auch Anhängern von Bourdieus „verstehender“ Forschungshaltung, kann dieses Buch wärmstens weiterempfohlen werden. Wer sich dagegen noch nie mit dem Begriff der Biographie, Praxistheorien und Grundlagen der qualitativen Forschung auseinandergesetzt hat, dem ist dieses Buch nicht uneingeschränkt zu empfehlen!
Eric –
Wer sich mehr für die analytische Tiefe denn für die zahlenmäßige Breite interessiert, ist mit diesem Buch gut beraten. Es richtet den Blick auf “die Spuren sozialer Mechanismen und Prozesse” (S.95), die wir den Erzählungen der Menschen von ihrem Leben und Lebensabschnitten entnehmen können. Ist Sozialforschung aus Neugierde an den Menschen Ihr Antrieb, können Sie mit diesem Buch eine interessante Methode zur Hand bekommen, mit Hilfe derer Sie nicht nur aus der gezielten Erzählung im Interview Erkenntnisse schöpfen können, sondern gewissermaßen auch aus Romanen oder (Auto-)Biographien ganzheitliches Wissen und Deutungsvermögen zu sieben in der Lage sind. Sprachlich hatte ich allerdings an manchen Stellen – insbesondere am Anfang – das Gefühl, dass an der einen oder anderen Stelle unnötig rumgeschwafelt und sich wiederholt wird. Darüber hinaus aber ein beachtenswertes Buch!
Johannes –
Die vorliegende Übersetzung hat das Potential, einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der qualitativen Forschung in Deutschland zu liefern. Auch liefert das Buch teils recht forschungspraktische Hinweise, beispielsweise zur Vorbereitung eines Interviewtermins und zur Gesprächsführung – die in ihrer Gesamtheit sicherlich nicht ausreichend sind, aber dennoch die vorherige Lektürde der qualitativen Grundlagenliteratur in Erinnerung ruft und teils darüber hinausgeht.
Für eine zweite Auflage, die ich dem Werk gerne wünsche, wäre es allerdings angeraten die Gender-Schreibweise eingehend zu überarbeiten. Diese ist bisweilen nicht einheitlich und wird nicht konsequent durchgeführt. Eine Tatsache, die mir beim Lesen unangenehm aufgefallen ist und teils den Lesefluss und -freude doch gemindert haben.
Alles in Allem gilt mein Dank den Autor*innen und dem Verlag zu dem Mammutprojekt der Übersetzung. Es wäre schön, wenn diese Bemühen fortgesetzt werden. Der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus ist immer gewinnbringend.
Shevek –
Es ist ein junges Publikum, an das sich Daniel Bertaux, richtet, genauer gesagt „fortgeschrittene Studierende“ (S. 100), noch genauer gesagt: Studierende der Soziologie. Denn diese disziplinäre Fokussierung ist fundamental und bildet den roten Faden des schmalen Bändchens: Immer wieder weist Bertaux darauf hin, dass sein ethnosoziologischer Ansatz Lebenserzählungen (er meint das narrative Interview) von Autobiographien deutlich zu unterscheiden sind (S. 48f., 51, 53, 59f, 86ff.). Erstere sind dialogische – und durch Adressierung und „Auftrag“ gefilterte – Produkte einer interaktiven Erhebungssituation, letztere „eine schriftliche und vielfach bearbeitete Selbstreflexion“ eines Einzelautors, bzw. ein „eigenes Langzeit-Selbstportrait als eine Art narzisstisches Dauer-Selfie“ (S. 53). In dieser pointierten Formulierung klingt schon an, worauf Bertaux nicht aus ist: Mit dem Plädoyer des Lösens „vom mächtigen Einfluss des autobiografischen Modells“ (S. 59) grenzt er sich von „psychologischen“, zu sehr am Einzelfall, dem Individuum, der Psyche des Subjekts orientierten Zugängen ab (S. 75, 79f., 83, 95, 99). Demgegenüber ginge es der Soziologie gerade um die hinter den subjektiven Einzelfällen liegenden Sozialstrukturen, die in leicht übersehbaren Indizien in den Lebenserzählungen aufscheinen sollen. Über den Vergleich von Fällen innerhalb der gleichen sozialen Welten, sozialen Situationen und ähnlichen lebensgeschichtlichen Prozessstrukturen (den Begriff wählen die Übersetzer nicht im Sinne Fritz Schützes) verspricht Bertaux das Erarbeiten von Modellen zur Erklärung sozialer Prozesse. Der ganze Spannungsbogen, wie ihm dies methodisch-technisch gelingen will, verpuffen, wenn er nach einem einzigen kurzen Deutungsbeispiel („Wir haben die ganze Woche durchgearbeitet, jeden Tag.“) zu einem Du-schaffst-das-schon-Plädoyer übergeht, dass einem explizit die „trügerische Hoffnung“ (S. 100) auf konkrete Analysetechniken nimmt. Stattdessen folgt der Appell, einen eigenen Forschergeist zu entwickeln und in der eigenen Forschung auf die eigene Kreativität und Vorstellungskraft zu vertrauen. Kombiniert mit den zum Teil unfreiwillig komischen konkreten Tipps zu Akquise (z.B. Wortwahl beim Telefonkontakt), Erhebung (z.B. ordentlich anziehen) und Publikation (nur eben nicht zur Auswertung!) eignet sich das Buch einerseits tatsächlich, dem Forschungsnachwuchs einige Unsicherheiten zu nehmen und durchaus auch zu motivieren, andererseits wäre schon wünschenswert gewesen unter einem so allgemeinen Titel zu einem konkreten Forschungsansatz auch aufschließenden, tiefgehenden Einblick in die Auswertungsschritte zu erlangen.
Mit mehr Substanz in dieser Hinsicht wäre leichter zu verschmerzen gewesen, dass „Die Lebenserzählung“ als Übersetzung aus dem Französischen nur unzureichend in der deutschen scientific community eingebettet ist und dadurch stellenweise umständlichere oder unergiebige Eigenlösungen zu Phänomenen anbietet, die etwa bei Fritz Schütze (z.B. Zugzwänge des Erzählens, die Bertaux auf S. 86 weiterhelfen würden) oder Lucius-Hoene/Deppermann (z.B. narrative Konstruktivität über Ereignis, Erlebnis, Erinnerung und Erzählung, die Bertaux auf S. 84 weiterhelfen würde) etabliert gelöst sind.
Obwohl ich den kurzen, leicht lesbaren und stellenweise auch unterhaltsamen Band sehr gerne gelesen habe und – auch als Nicht-Soziologe – durchaus auch schöne Impulse für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung habe gewinnen können, drängt sich mir die Frage auf, ob eine überarbeitete Kürzung des Bandes für eine Veröffentlichung in einem Sammelband nicht eine konstruktivere, zielführendere Strategie gewesen wäre, den sympathischen Daniel Bertaux einem deutschen Publikum zuzuführen.
Unabhängig von allen vorigen Einwänden ist das Buch wunderbar als Einstieg geeignet, Studierende für die qualitative Forschungsarbeit an Narrationen zu gewinnen und zu motivieren.