Beschreibung
Meist steht das Individuum im Analysefokus kultureller Phänomene. Analog zur Hirnforschung, die anhand einer Läsion (Beschädigung) eines Hirnareals Rückschlüsse auf die Funktion des jeweiligen Areals ziehen kann, fasst Heiner Mühlmann die COVID-19-Pandemie als Realexperiment zur kulturellen Läsionsforschung auf. So zeigt er auf, warum der Fokus aufs Individuum zu kurz greift: Kulturen sind tribal organisiert – auch diejenigen, die den Individualismus hochhalten.
Während sich die Disziplin der “Cultural Evolution” in angelsächsischen Ländern weiterer Verbreitung erfreut, ist die Kultur-Evolution in Deutschland bislang ein eher kleiner Theorie- und Diskussionszusammenhang. 2004 gründete Heiner Mühlmann die Forschungsgruppe Transmission in Rhetorics, Arts and Cultural Evolution (TRACE), um ihr auch im deutschsprachigen Diskurs zur Geltung zu verhelfen. Dieses Team aus Künstler*innen, Kultur- und Neurowissenschaftler*innen setzte sich zum Ziel, die Einspeicherung kultureller Artefakte in biologische Gedächtnissysteme zu untersuchen. Knapp 30 Jahre nach Erscheinen seines Buches „Natur der Kulturen“ und zahlreichen weiteren Büchern und Beiträgen zum Thema legt Mühlmann mit dem vorliegenden Buch eine Zusammenfassung seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit vor, indem er die europäische Kultur als evolvierendes System beschreibt und sie an einem „Realexperiment“ expliziert. Wenn Mühlmanns These zutrifft, dass Menschen auch im „individualisierten“ Westen immer in Tribalsysteme eingebunden sind, so bedeutete die COVID-19-Pandemie mit ihren Social-Distancing-Maßnahmen die Läsion dieses Tribalverbunds. In der Hirnforschung bedeutet Läsion, dass ein Teil des Gehirns gestört wird und sich über die mit der Störung einhergehende Funktionsbeeinträchtigung Rückschlüsse auf die Bedeutung des gestörten Teils für das Gesamtsystem ziehen lassen. So wird deutlich: Die geläufige Bezugsgröße des Individuums hat keine Analysekompetenz für die Untersuchung kultureller Systeme.”
Der Autor:Prof. em. Dr. Heiner Mühlmann, Professor emeritus der Universität Wuppertal, Mitgründer und Mitglied der Forschungsgruppe TRACE
Die Fachbereiche:
Kulturwissenschaften, Gesellschaft, Politikwissenschaft
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