Inhalt
Soziologiemagazin
2-2017 (Heft 16): Entfremdung
Interview
Markus Rudolfi: Expert Interview with Prof. Dr. Ronen Shamir of Tel Aviv University
Schwerpunkt
Dustin Voss: Entfremdung readressiert. Eine explorative Untersuchung zur Prekarität im Investmentbanking
Sebastian Illigens: Henri Lefebvre: Entfremdung und das Recht auf die Stadt
Sam Schneider: Zwanghafte Selbstverwirklichung? Zur Paradoxie der (Selbst-) Entfremdung im Neokapitalismus
Jonathan Armas: Das Ich, das Wir und das Netz. Rollen, Identität und Raum in Social-Media-Interaktionen
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Abstracts
Entfremdung readressiert. Eine explorative Untersuchung zur Prekarität im Investmentbanking (Dustin Voss)
Ende der 90er Jahre unternimmt der französische Soziologe Pierre Bourdieu den Versuch, das Verständnis von Prekarität als Problem der Armut umfassend zu erweitern. Er definiert den Begriff als allgemeine Verkörperung von Statusungewissheit und macht ihn damit schichtenübergreifend verankerbar. Dies eröffnet neue Möglichkeiten der soziologischen Analyse. Darauf aufbauend wird in diesem Beitrag versucht, Karl Marx’ Entfremdungstheorie auf eine (vermeintlich) elitäre Gruppe kapitalistischer Gesellschaften – die „Finanzmanager_innen“ – anzuwenden. Auf die oft gestellte Frage nach den Motivationsstrukturen dieser Gesellschaftsgruppe könnte diese Readressierung der Marx’schen Entfremdungstheorie eine unkonventionelle Antwort geben. Denn wie sich herausstellt, zeigt sich die Entfremdung insbesondere in der Funktionalisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen und der Konstruktion einer sozial-anschlussfähigen Persönlichkeit im finanzelitären Arbeitsumfeld. Dies wird im Rahmen dieser Arbeit auf Grundlage eines umfangreichen Leitfadeninterviews mit einem aktiven Top-Investmentbanker explorativ überprüft. Die Untersuchung zeigt, dass unter Berücksichtigung moderner Entwicklungen eine erweiterte Anwendung der Marx’schen Theorie angebracht ist.
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Henri Lefebvre: Entfremdung und das Recht auf die Stadt (Sebastian Illigens)
Henri Lefebvre ist heute primär für eine bestimmte Periode seines Schaffens bekannt, als Theoretiker des Raums und der Urbanisierung. Weite Teile seines Werkes außerhalb dieser Periode bleiben hingegen unbeachtet. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass Lefebvres Schriften zu Stadt und Raum nur im Kontext seiner lebenslangen, an Marx angelehnten Beschäftigung mit Entfremdung und den Potenzialen menschlicher Praxis richtig zu erfassen sind. Der von Lefebvre diagnostizierte abstrakte Raum ist eine sozio-räumliche Ausformung des Entfremdungsphänomens in kapitalistischen Gesellschaften. Explizit in diesem Kontext konzipiert Lefebvre sein Recht auf die Stadt: als kollektives demokratisches Recht. Erst durch eine praktische Ausübung dieses Rechts können sich Potenziale des menschlichen Gemeinwesens demokratisch entfalten.
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Zwanghafte Selbstverwirklichung? Zur Paradoxie der (Selbst-) Entfremdung im Neokapitalismus (Sam Schneider)
Der vorliegende Beitrag versucht die Entfremdungskritik im Anschluss an Marx unter den postindustriellen Bedingungen des Neokapitalismus zu reformulieren. Dabei zeigt er auf, wie unter den Bedingungen einer zunehmenden Ökonomisierung und Flexibilisierung der Arbeitsorganisation der prominente und für die Marxsche Entfremdungsdiagnose ursächliche Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ins unternehmerische Subjekt verlagert wird, welches sich unter den neoliberalen Selbstverwirklichungsimperativen potentiell von sich selbst entfremdet. Entfremdung, so die These, wird unter den Bedingungen subjektivierter Arbeit paradoxerweise mittels ihres eigenes Gegenteils, folglich mittels Selbstverwirklichung, Authentizität und Autonomie, erfahren. Somit stehen das Subjekt und sein paradoxes Spannungsverhältnis zwischen seinen normativen Absichten nach Selbstverwirklichung und den kapitalistischen Verwertungsinteressen im Fokus der an der jüngeren Kritischen Theorie angelehnten Analyse. Schließlich wird der Versuch unternommen, die Entfremdungskritik von ihren theoretischen Mängeln zu befreien und diese in ihrem immanenten Doppelcharakter, als Einwand gegen die herrschenden Verhältnisse und zugleich als Legitimationsnarrativ des Bestehenden, zu reflektieren.
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Das Ich, das Wir und das Netz. Rollen, Identität und Raum in Social-Media-Interaktionen (Jonathan Armas)
Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Begriff „Entfremdung“ im Zusammenhang mit Social-Media-Plattformen und den dort stattfindenden Interaktionen. Dabei geht der Autor von einem Diskurs aus, der diese kritisiert, sich jedoch der großflächigen Aufmerksamkeit entzieht. Der Autor entwickelt aus den Ansätzen von Zygmunt Bauman zu sozialen Räumen und Rahel Jaeggi zu Rollenentfremdung die These, dass die Form von Sozialität und Interaktion in Social-Media-Portalen zur gefühlten Entfremdung geführt habe. Da der neue soziale Raum, der dort geschaffen wird, Rollenkonversionen herausfordert und so zwingend konflikthaft ist, führt er zu Mechanismen der Konfliktreduktion, die das Selbst in Interaktion und Erscheinung beschränken. Dieses reduzierte Selbst und die Norm der distanzierten Interaktion könnten an den Raumgrenzen in die Alltagswelt übertreten und so auch diese transformieren.
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