Inhalt
BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen
1-2023: Biographie und Vergessen: Perspektiven und Gegenstandsbereiche einer vergessenssensiblen Biographieforschung
Hrsg. von: Merle Hinrichsen & André Epp
Merle Hinrichsen / André Epp: Einführung in das Themenheft
Beiträge
Heide von Felden: Vergessen in narrativen Interviews: Nicht-Vergessen-Können, Nicht-Wissen-Wollen, Verdrängen, Betäuben, Überschreiben
Oliver Dimbath: Selektivitäten des Biographierens. Gedächtnissoziologische Überlegungen zu Formen des Vergessens bei der Rekonstruktion gelebten Lebens
Maria Pohn-Lauggas / Miriam Schäfer: Soziale Bedingungen von Erinnern und Vergessen: Biographische und intergenerationale Dynamiken
Laura Behrmann / Hanna Haag: Autobiographische Praktiken des Erinnerns und Vergessens. Soziale Ungleichheiten in Karrierewegen ostdeutscher Professor*innen
Michael Corsten / Melanie Pierburg: „Was mit ihr passiert ist, weiß ich nich mehr“: Mythisierungsweisen des Vergessenen
Imke Kollmer: Die Grenzen der Rekonstruktion biographischen Vergessens. Objektiv-hermeneutische Betrachtungen zu epistemischen und methodologischen Limitationen der Biographieforschung
Julia Becher: Biographisches Vergessen aus strukturtheoretischer Perspektive. Methodologische und methodische Überlegungen zum qualitativ-rekonstruktiven Längsschnitt
Kristina Schierbaum / Sinje Brinkmann: Dem Vergessen von Biographien nachnutzend begegnen
Einzelbeitrag-Download (Open Access/Gebühr): bios.budrich-journals.de
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Abstracts
Vergessen in narrativen Interviews: Nicht-Vergessen-Können, Nicht-Wissen-Wollen, Verdrängen, Betäuben, Überschreiben (Heide von Felden)
Der Beitrag befasst sich vor allem auf empirischer Ebene mit Formen des Vergessens, die in narrativen Interviews zu finden sind. Vorangestellt werden theoretische Überlegungen zur begrifflichen Bandbreite von Vergessen und methodische Hinweise zur Erfassung von Vergessen in narrativen Interviews. Im Mittelpunkt stehen drei Fälle, an denen Beispiele für das Umgehen mit Vergessen aufgezeigt werden. Insgesamt können die Kategorien Nicht-Vergessen-Können, Nicht-Wissen-Wollen, Verdrängen, Betäuben und Überschreiben aus dem empirischen Material herausgearbeitet und in ihrer Bedeutung für die Biographieforschung dargestellt werden.
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Selektivitäten des Biographierens. Gedächtnissoziologische Überlegungen zu Formen des Vergessens bei der Rekonstruktion gelebten Lebens (Oliver Dimbath)
Biographie hat fast immer etwas mit Vergangenheit bzw. dem Rückgriff auf sie zu tun. Auch wenn es um eine möglichst vollständige Rekonstruktion gelebten Lebens geht, muss mit systematischen Restriktionen im Sinne sozialer Selektivitäten gerechnet werden. In diesem Beitrag geht es darum, das Weglassen biographischer Informationen mit gedächtnissoziologischen Begriffen in den Blick zu nehmen. Biographieren als Konstruktion von Biographie kann einerseits pragmatistisch und andererseits strukturtheoretisch untersucht werden: Zentral sind dann die Relevanzen gegenwärtiger Situationen des Retrospektierens sowie gesellschaftliche Bedingungen, wie sie im Rahmenbegriff nach Maurice Halbwachs gefasst sind. Vergessen, das zunächst als „natürliche“ Folge fehlenden Erinnerns erscheint, hat damit soziale Ursachen. Biographisches Vergessen kann überdies bewusst eingesetzt werden oder zum Ausdruck kommen, wenn bestimmte Erinnerungserwartungen nicht erfüllt werden.
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Soziale Bedingungen von Erinnern und Vergessen: Biographische und intergenerationale Dynamiken (Maria Pohn-Lauggas und Miriam Schäfer)
Wir wenden uns in diesem Beitrag der Funktion des Vergessens und des Erinnerns in Familiengedächtnissen und in Biographien von Nachkommen jener zu, die im Nationalsozialismus als „asozial“ oder als Deserteure verfolgt wurden. Ausgangspunkt ist unsere biographieanalytische Mehrgenerationenforschung in Österreich und Deutschland zu intergenerationaler Tradierung und zu den Familiengedächtnissen dieser zwei Opfergruppierungen. Wir fokussieren hier auf die Frage, in welchen erinnerungspolitischen und biographischen Konstellationen bestimmte familiengeschichtliche Anteile vergessen und andere (wieder)erinnert werden. Anhand eines Vergleichs zweier Familien diskutieren wir, wie neues Wissen über die familiale Verfolgungsvergangenheit in Familiengedächtnisse integriert wird, wie an vergessene Anteile angeknüpft wird und wie somit neue Deutungen über die Familiengeschichte entstehen (können) und zugleich Anderes vergessen wird. Wir zeigen, dass das Vergessene, das sich einer intentionalen und reflexiven Zuwendung durch das Erinnern entzieht, dennoch intergenerational in Form von Deutungs- und Handlungsmustern weitergegeben wird; es wird nicht vergessen im Sinne eines Verlustes, sondern im Sinne eines Verdrängens oder Verblassens, eines Verleugnens oder Tabuisierens. Die in diesem Sinne vergessenen Anteile erweisen sich als intergenerational bedeutsam und handlungsstrukturierend.
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Autobiographische Praktiken des Erinnerns und Vergessens. Soziale Ungleichheiten in Karrierewegen ostdeutscher Professor*innen (Laura Behrmann und Hanna Haag)
In diesem Beitrag analysieren wir 18 Autosoziobiographien, geschrieben von Professor*innen, die zwischen 1942 und 1982 in der DDR geboren wurden. Als Grundlage für das Verfassen der autobiographischen Texte diente der Impuls, den Weg zur Professur vor dem Hintergrund des Aufwachsens in der DDR zu beschreiben. Wir fragen, inwiefern Erfahrungen sozialer Benachteiligung in der DDR-Gesellschaft sowie im Zuge der Systemtransformation in diesen Autobiographien konserviert oder aktiv neu ausgehandelt werden (mussten). Analytisch interessiert uns daran, welche Dimensionen sozialer Ungleichheit wie vergessen und erinnert werden. Der Beitrag verbindet somit mikrosoziologische Perspektiven der Ungleichheitsforschung mit biographietheoretischen Überlegungen und Aspekten sozialer Gedächtnisforschung. Am Beispiel der Intersektion von Benachteiligungsdimensionen lässt sich die Verwobenheit von individuellem und sozialem Gedächtnis herausarbeiten. Dabei zeigt sich, dass das Vergessen zu einem funktionalen Konstruktionsprozess von Autobiographien gehört, insbesondere dann, wenn kollektiv verhandeltes Wissen einbezogen werden muss. Diskussionswürdig ist damit abschließend, welche Phänomene und Prozesse sozialer Benachteiligung über autobiographische Erfahrungen zugänglich gemacht werden können.
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„Was mit ihr passiert ist, weiß ich nich mehr“: Mythisierungsweisen des Vergessenen (Michael Corsten und Melanie Pierburg)
In dem Artikel gehen wir der Frage nach, welchen Stellenwert die Artikulation von Nicht-Erinnertem und Nicht-Gewusstem in biographischen Erzählungen einnimmt. Dazu bestimmen wir zunächst allgemein das Verhältnis von biographischer Vergegenwärtigung, Gedächtnis und Nicht-Erinnern. Mithilfe von sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtniskonzepten gehen wir über ein Verständnis des Erinnerns als Vergegenwärtigung von Fakten hinaus und analysieren das Nicht-Erinnerte als ein Moment des Doing Autobiography (1). Basierend auf methodischen Ergänzungen der Narrationsanalyse biographischer Selbstdarstellung, die wir im zweiten Abschnitt umreißen (2), stellen wir im empirischen Hauptteil drei biographische Episoden aus zwei Fallstudien vor, in denen das Vergessen und das Vergessene in je unterschiedlicher Weise Teil der Erzählungen werden. Wie das nicht mehr Gewusste mit dem Gewussten verwoben wird und dadurch zur Sinnausrichtung der Sachverhaltsdarstellung beiträgt, rekonstruieren wir narrationsanalytisch. Hier fokussieren wir auf die sich entfaltenden Dramaturgien der Erzählpassagen (3). Wir gehen den Zusammenhängen von Nicht-Erinnern, biographischem Sprechen und Mythisierungen nach und rekonstruieren narrative Funktionen von Vergegenwärtigungsdefiziten und ihren Markierungen in Lebenserzählungen (4).
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Die Grenzen der Rekonstruktion biographischen Vergessens. Objektiv-hermeneutische Betrachtungen zu epistemischen und methodologischen Limitationen der Biographieforschung (Imke Kollmer)
Der Beitrag widmet sich den erkenntnislogischen Schwierigkeiten des empirischen Zugriffs auf Vergessen im Kontext einer rekonstruktiven Biographieforschung. Zugleich wird expliziert, dass Vergessen, das untrennbar mit Erinnern verbunden ist, Biographien mitstrukturiert und formt. In Rekurs auf methodisch-methodologische Grundlagen der Objektiven Hermeneutik wird dargelegt, dass Vergessen jedoch keine ausdrucksmateriale Gestalt annimmt, sondern nur vermittelt oder als sein Komplement rekonstruiert werden kann. Erkenntnisleitend ist dabei die Annahme, dass Vergessen nicht ohne externe Quellen oder Konstruktionen der Forscher:innen zum Erkenntnisgegenstand werden kann und dabei rekonstruktionsmethodologische Grundierungen und Implikationen überschreitet.
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Biographisches Vergessen aus strukturtheoretischer Perspektive. Methodologische und methodische Überlegungen zum qualitativ-rekonstruktiven Längsschnitt (Julia Becher)
Der vorliegende Beitrag legt methodologische und methodische Überlegungen zur Rekonstruktion biographischen Vergessens aus der Perspektive einer strukturtheoretischen Biographieforschung dar und fokussiert dabei den methodischen Zugang des qualitativ-rekonstruktiven Längsschnitts. Ausgehend von einer strukturtheoretischen Perspektive wird das biographische Vergessen im Zusammenhang mit krisendynamischen Bildungsprozessen verstanden, die sich in einer Dialektik von Emergenz und Determination vollziehen. Der qualitativ-rekonstruktive Längsschnitt wird als Methode diskutiert, mit der prozessuale biographische Gedächtnisbildungen und eine Sequenz an Retrospektiven erfasst werden können, die sich entlang biographischer Konvergenzpunkte entfalten. Es wird vorgeschlagen, Verschiebungen im Verhältnis von Erinnern und Vergessen im Zusammenhang mit charismastiftenden Potentialen zu begreifen, die Erinnerungen für die Bearbeitung von Krisen haben. Dies wird exemplarisch anhand einer Fallrekonstruktion dargelegt, die sich auf insgesamt drei Interviews stützt und einen Längsschnitt über zwei Jahre abbildet.
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Dem Vergessen von Biographien nachnutzend begegnen (Kristina Schierbaum und Sinje Brinkmann)
Der Beitrag diskutiert Erinnern und Vergessen im Kontext von Archivierung und qualitativer Sekundäranalyse von Biographien. Dabei wird die Rolle von Archiven bei der Bewahrung, Bereitstellung und Nachnutzung von Lebensgeschichten in Bezug auf die Erinnerungskultur herausgearbeitet. Zunächst werden verschiedene theoretische Bezüge zum Gedächtnisdiskurs hergestellt. Daran anschließend wird die Bedeutung von Archiven bei der Überführung von individuellen Erinnerungen in das kulturelle Gedächtnis entfaltet, um zu beschreiben, wie dadurch dem Vergessen entgegengewirkt wird und Biographien in die Erinnerungskultur eingebunden werden können. Außerdem wird die (digitale) Möglichkeit der Archivierung und Nachnutzung von Quellen herausgestellt, die zur Erweiterung methodischer und theoretischer Möglichkeiten sowie zur Bewahrung von Erinnerungen beiträgt. Qualitative Sekundäranalysen von biographischen Interviews können Leerstellen füllen, neue Perspektiven eröffnen und zur Nachhaltigkeit beitragen, erfordern jedoch den achtsamen Umgang mit den Daten und die Einhaltung forschungsethischer Grundsätze. Die Archivierung biographischer Narrationen leistet einen Beitrag zur lebendigen Erinnerungskultur und beugt dem kollektiven Vergessen vor, weil im Rahmen qualitativer Sekundäranalysen archivierter Quellen ein Erinnerungspotenzial entfaltet und darüber hinaus ein Reflexionsprozess über das Vergessen angeregt wird.
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