Inhalt
BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen
1+2-2015: Transnationale Biographien
hrsg. von: Volker Depkat & Tobias Grill
Beiträge
Volker Depkat: Biographieforschung im Kontext transnationaler und globaler Geschichtsschreibung
Boris Ganichev: Reflexionen imperialen Wandels in der bürokratischen Autobiographie des Geheimrats Nikolaj A. Kačalov (1818-1891)
Tobias Grill: Kampf für Sozialismus und Judentum auf vier Kontinenten: Isaac Nachman Steinbergs rooted cosmopolitanism
Berenika Szymanski-Düll: Theater und Transmigration. Die Schauspielerin Helena Modrzejewska (1840-1909) zwischen USA und Polen
Jan Logemann: Transatlantische Karrieren und transnationale Leben: zum Verhältnis von Migrantenbiographien und transnationaler Geschichte
Weitere Aufsätze
Malte Völk: „Wenn sie die Augen schloss, fing sie an zu denken“. Demenz in Biographie, Chronik und Tagebuch
Steffen Hagemann / Anna Hokema / Simone Scherger: Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze. Erfahrung und Deutung erwerbsbezogener Handlungsspielräume im Alter
Boris Zizek: Erwachsenwerden im heutigen Israel. Exemplarische Rekonstruktion von Adoleszenz in ethnisch und interkulturell konflikthaften Sozialisationsräumen
Christiane Bertram: Lebendige Erinnerung oder Erinnerungskonserven und ihre Wirksamkeit im Hinblick auf historisches Lernen
Yvonne Schütze: Twenty Years After. Netzwerke russisch-jüdischer Migranten im Zeitverlauf
Ekkehard Klausa: Sie kamen aus dem „Stahlhelm“. Frühe Kampfgenossen Hitlers, die früh in den Widerstand gingen
Dieter Reinisch: Frauen in der irisch-republikanischen Bewegung nach 1969. Überlegungen zu Oral History, sensiblen Daten und dem Nordirlandkonflikt
Sammlungen
Vanessa Hannesschläger / Katharina Prager: Einleitung zu den beiden folgenden Beiträgen
Vanessa Hannesschläger: Ernst Jandl Online. Lebenswerk und Leben eines Werkes im digitalen Raum
Katharina Prager: „Einer, der’s gut mit mir meint, vermißte meine Biographie“. Anti/Biographische Affekte um Karl Kraus
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Abstracts
Biographieforschung im Kontext transnationaler und globaler Geschichtsschreibung (Volker Depkat)
Der Beitrag liefert einen Überblick über die aktuelle Theoriediskussion im Feld der historischen und kulturwissenschaftlichen Biographieforschung sowie dem der transnationalen Geschichte/Global History. Darauf aufbauend wird im Lichte der Beiträge zum Schwerpunktthema dieses Heftes der epistemologische Mehrwert erörtert, den biographische Ansätze für die Erkenntnisinteressen einer transnationalen, auf grenzüberschreitende Beziehungs-, Verflechtungs- und Transferprozesse ausgerichteten Geschichtsschreibung haben können.
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Reflexionen imperialen Wandels in der bürokratischen Autobiographie des Geheimrats Nikolaj A. Kačalov (1818-1891) (Boris Ganichev)
Im vorliegenden Aufsatz werden die 2012 erstmals vollständig erschienenen Aufzeichnungen des Direktors des russländischen Zolldepartements Nikolaj A. Kačalov (1818-1891) analysiert. Im Zentrum von Kačalovs Selbstzeugnis steht seine Reflexion über den Wandel, dem das Russländische Reich im Zuge der Großen Reformen der 1860er Jahre unter Zar Aleksandr II. unterworfen war. Im Beitrag wird zum einen analysiert, wie Kačalovs Selbstbeschreibung und speziell deren Schreibmuster durch diese Umbruchsepoche geprägt wurde. Zum anderen wird Kačalovs Reflexion des imperialen Wandels untersucht und nach Strategien gefragt, mit welchen er historische und persönliche Brüche aufeinander bezog und integrierte. Sein retrospektiver Blick auf die 1860er und 1870er Jahre erweist sich darüber hinaus als geeignete Quelle für die Betrachtung der Genese restaurativ-konservativer Denkmuster der 1880er Jahre.
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Kampf für Sozialismus und Judentum auf vier Kontinenten: Isaac Nachman Steinbergs rooted cosmopolitanism (Tobias Grill)
Im vorliegenden Beitrag soll anhand der Biographie von Isaac Steinberg, Protagonist der Oktoberrevolution und später Führer des jüdischen Neo-Territiorialismus, gezeigt werden, in welcher Weise der bewusste transnationale Aktivismus eines globalen Subjekts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer dezidierten Haltung des rooted cosmopolitanism geprägt war. Damit offenbart sich in der grenzüberschreitenden Lebenspraxis eines Individuums, wie das Globale und das Lokale, Universalismus und Partikularismus, Weltbürgertum und kulturelle Souveränität miteinander verflochten waren bzw. aufeinander bezogen blieben. Auch wenn einem derartigen transnationalen Aktivismus im „Zeitalter der Extreme“ letztlich kein „Erfolg“ beschieden war, und der rooted cosmopolitan in der Erinnerungskultur marginalisiert wurde, so treten doch mit Hilfe des biographischen Zugangs sehr deutlich die Alternativen des Geschichtsverlaufs im globalen Kontext zutage.
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Theater und Transmigration. Die Schauspielerin Helena Modrzejewska (1840-1909) zwischen USA und Polen (Berenika Szymanski-Düll)
Die 1850 in Krakau geborene Helena Modrzejewska gehört zu den Schauspielerinnen und Schauspielern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denen es gelungen ist, international Karriere zu machen. Auf der Basis des Konzepts zur Transnationalen Migration von Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Blanc-Szanton wird in dem hier vorliegenden Artikel herausgearbeitet, wie die Schauspielerin gerade aufgrund ihrer Migration von Polen in die USA geographisch, sprachlich und kulturell getrennte Orte zu einer Handlungsarena verband, indem sie sich zwischen verschie-denen kulturellen, politischen und ökonomischen Systemen hin und her bewegte und so multiple und simultane Verbindungen über nationale Grenzen hinweg erschuf. Damit erwies sie sich nicht nur als binationaler Star, sondern auch als transnationale Akteurin.
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Transatlantische Karrieren und transnationale Leben: zum Verhältnis von Migrantenbiographien und transnationaler Geschichte (Jan Logemann)
Transnationale Biographien eröffnen wichtige Perspektiven für eine zunehmend global orientierte Geschichtswissenschaft. Am Beispiel der transatlantischen Karrieren von Paul Lazarsfeld und anderen europäischen Emigranten in den Vereinigten Staaten von Amerika untersucht dieser Aufsatz, inwiefern der biographische Zugriff unser Verständnis für die Mikroebene transnationaler Transferprozesse schärfen kann. Transnationale Biographik hat zahlreiche Anknüpfungspunkte in der neueren Migrations- und Transferforschung sowie in der Globalgeschichte. Kosmopolite Lebensläufe fanden hier bisher vor allem als „transgressive Biographien“ oder als „transnationale Mittler“ Beachtung. Aufbauend auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts Transatlantic Perspectives am Deutschen Historischen Institut in Washington wird die Bedeutung von „transnationalen Mittlern“ für drei zentrale Aspekte von Transfer- und Austauschprozessen herausgearbeitet: 1. die Bedeutung von Migranten für grenzüberschreitenden und reziproken Wissenstransfer, 2. die Bedeutung von Netzwerken für die Verstetigung und Nachhaltigkeit von Austauschprozessen, sowie 3. die Zentralität von aktiven Übersetzungsleistungen bei der Lokalisierung und Adaption von Wissen und Praktiken. Abschließend werden auch blinde Flecken eines solchen Zugangs zu transnationaler Geschichte kurz problematisiert.
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„Wenn sie die Augen schloss, fing sie an zu denken“. Demenz in Biographie, Chronik und Tagebuch (Malte Völk)
Die Untersuchung nähert sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht der biographisch orientierten Darstellung von demenziellen Erkrankungen durch nahe Angehörige. Dafür werden anhand von ausgewählten Dokumenten unterschiedliche Erzähl- und Darstellungsformen miteinander verglichen: Eine professionell geschriebene und publizierte Alzheimer-Narration wird auf ihre erzählerischen Muster hin analysiert. Diese werden auf ganz ähnliche Weise auch in einem nichtpublizierten, privaten Tagebuch nachgewiesen, während eine weitere private Familienchronik auch ohne besondere Gestaltungsweisen einen vergleichbaren poetischen und reflexiven Gehalt akkumuliert. Die Untersuchung fokussiert sich dabei besonders auf den schwierig zu fassenden Grenzbereich zwischen der schwindenden Ausdrucksfähigkeit der Erkrankten selbst auf der einen und der relationalen Erfahrung der Angehörigen auf der anderen Seite.
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Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze. Erfahrung und Deutung erwerbsbezogener Handlungsspielräume im Alter (Steffen Hagemann, Anna Hokema, Simone Scherger)
Der Artikel untersucht und vergleicht die Gründe für Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze aus der subjektiven Perspektive von arbeitenden Rentnerinnen und Rentnern sowie von Expertinnen und Experten, die sozialpolitische Akteure vertreten. Grundlage sind in Deutschland und Großbritannien geführte qualitative Interviews. Arbeitende Ältere schildern eine Vielzahl von Gründen für ihre Tätigkeit, besonders Freude an der Arbeit und soziale Kontakte. Finanzielle Motive fürs Arbeiten sind vielfältig und lassen sich nicht auf finanzielle Not reduzieren. Insgesamt überwiegt die positive Erfahrung der Tätigkeit vor dem Hintergrund des entpflichteten Ruhestands, der durch die Erwerbstätigkeit aktiv gestaltet wird. Die Expertinnen und Experten ordnen die von ihnen ausgemachten vielfältigen Gründe für Arbeit im Rentenalter, dichotomisieren sie teilweise (in Zwang oder Wahl) und quantifizieren ihr Vorkommen. Dies ist die Grundlage für ihre Wertungen und politischen Folgerungen. Wir diskutieren die Unterschiede zwischen den Perspektiven der arbeitenden Älteren und der Fachleute im Kontext der institutionellen Formierung von Handlungsspielräumen, der Deutung individuellen Handelns in individualisierten Gesellschaften und der an Aktivierung orientierten Neuverhandlung der Lebensphase Alter. Erwerbstätigkeit im Rentenalter wird bisher kaum als Zwang und Folge eingeschränkter finanzieller Handlungsspielräume erfahren. Die durch die Fachleute vorgenommene Gleichsetzung von finanziellen Motiven und Notwendigkeit des Arbeitens findet sich in den Sichtweisen der Älteren kaum. Gleichzeitig übersehen die Fachleute Handlungseinschränkungen der Älteren, die diese in Hinblick auf ihre Arbeitsgelegenheiten ausmachen. Sowohl in den Deutungen der Fachleute als auch in denen der arbeitenden Älteren schlagen sich auf Aktivierung zielende Neudeutungen des Ruhestands nieder, die neue soziale Ungleichheiten mit sich bringen könnten.
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Erwachsenwerden im heutigen Israel. Exemplarische Rekonstruktion von Adoleszenz in ethnisch und interkulturell konflikthaften Sozialisationsräumen (Boris Zizek)
In der Pilotstudie werden anhand der Ergebnisse extensiver Sequenzanalysen von narrativen Interviews mit vier weiblichen und männlichen, arabischen und jüdischen israelischen Adoleszenten, ihren Eltern und Peers israelspezifische Ausprägungen und Tendenzen in der Bewältigung des Übergangs zum Erwachsenenalter rekonstruiert. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den ethnisch und interkulturell konflikthaften Charakter des Sozialisationsraums Israel gelegt. Für die Heuristik werden sozialisations-, entwicklungs- und bewährungstheoretische Perspektiven entfaltet und die Komplexität des Palästinakonflikts hinsichtlich der Konfliktfelder und der historischen Tendenzen reflektiert. Die Ergebnisse der Fallstudien werden abschließend mit Forschungsergebnissen zur deutschen Y-Generation kontrastiert, um gemeinsame und spezifische Tendenzen herauszuarbeiten. Mit dieser haben die israelischen Fälle die Problematik biographischer Festlegung hinsichtlich der Bewährungsbereiche Beruf, Familie und Gemeinwohl gemein. Es ist eine Tendenz zur Veralltäglichung adoleszenter Haltung feststellbar. Die allgemeinen ökonomischen, Umwelt- und Sicherheitskrisen stellen sich für die israelischen Adoleszenten drastischer dar, und der Palästinakonflikt erweist sich als ein in die Familien und Biographien hineinreichendes Lebensthema. Die bedrohliche Situation für die Eigengruppe scheint Bewährungsformen aufzuwerten, die durch aktive Krisenlösung geprägt sind. Ein ausgeprägter Gemeinwohlbezug scheint ein spezifisches Element im Prozess der Adoleszenz im heutigen Israel zu bilden. Die zwei potentiellen, interkulturellen Brückenbauer unter den interviewten Adoleszenten haben aber Schwierigkeiten, im heutigen Israel eine Heimat möglicher Bewährung zu finden.
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Lebendige Erinnerung oder Erinnerungskonserven und ihre Wirksamkeit im Hinblick auf historisches Lernen (Christiane Bertram)
Eine kürzlich abgeschlossene, groß angelegte Interventionsstudie erlaubt erstmals einen empirisch begründeten Vergleich der Wirkung von lebendigen Zeitzeugen im Vergleich zu Zeitzeugen „Konserven“ im Klassenraum. Nach einer Klärung der Funktion und Rolle von Zeitzeugen (lebendig und als „Konserve“) in der Oral History, der Erinnerungskultur und der Holocaust Education und einer Diskussion der sich hieraus ableitenden Chancen und Risiken von Zeitzeugenbefragungen wird eine groß angelegte Interventionsstudie zur Wirksamkeit von Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht vorgestellt. Die Ergebnisse werden im Hinblick auf die Implikationen für den „normalen“ Geschichtsunterricht wie auch für die Holocaust Education diskutiert.
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Twenty Years After. Netzwerke russisch-jüdischer Migranten im Zeitverlauf (Yvonne Schütze)
Aus einer Langzeitstudie (vier Befragungen zwischen 1995 und 2015) über russisch-jüdische Migranten und Migrantinnen werden Ergebnisse zu Veränderungen der sozialen Netzwerke im Zeitverlauf dargestellt und diskutiert. Die Ergebnisse lassen sich zu zwei Thesen verdichten: Erstens, die sozialen Beziehungen zu Deutschen stagnieren auf einem konstant niedrigen Niveau. Diese Zurückhaltung gegenüber den Einheimischen ist zum Teil der starken Verankerung in der russischen Kultur geschuldet, so arbeitet z.B. die Hälfte der Befragten als „Dienstleister“ für Russen. Zweitens hängt die Verringerung der sozialen Beziehungen auch zu Mitgliedern aus der Herkunftsgesellschaft weniger mit dem Migrationsprozess als mit der Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters zusammen.
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Sie kamen aus dem „Stahlhelm“. Frühe Kampfgenossen Hitlers, die früh in den Widerstand gingen (Ekkehard Klausa)
„Der Stahlhelm Bund der Frontsoldaten“ kämpfte Seite an Seite mit der NSDAP gegen das Weimarer „System“ und half 1933 als Koalitionspartner im „Kampfbund Schwarz-Rot-Gold“ Hitler in den Sattel. Wenn dennoch zahlreiche Stahlhelmer im konservativen Widerstand im Kriege eine Rolle spielten, so liegt die Vermutung nahe, dass sie als militaristische Reaktionäre erst spät in den ohnehin verspäteten nationalkonservativen Widerstand fanden. Diese Hypothese hat sich nicht bestätigt. Gerade führende Stahlhelmer wie der „Bundeskanzler“ Siegfried Wagner und der Landesführer Werner Schrader brachen früh mit dem NS-Regime. Zunächst wahrscheinlich als unterlegene Rivalen um die Macht, dann als entschlossene Kämpfer gegen die Gewaltherrschaft. Ihr Kamerad, Landesführer Ferdinand von Lüninck, brauchte länger, aber alle drei und mehrere ihrer Stahlhelm Kameraden verloren ihr Leben im Widerstand.
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Frauen in der irisch-republikanischen Bewegung nach 1969. Überlegungen zu Oral History, sensiblen Daten und dem Nordirlandkonflikt (Dieter Reinisch)
Um Erinnerungen an den Konflikt in Nordirland zu sammeln, kündigte die nordirische Regionalregierung im September 2005 an, ein Oral History Archive (OHA) aufzubauen. Diese Ankündigung folgt der Kontroverse um das Boston College Belfast Project. Dabei handelt es sich um ein Oral History-Projekt, für das Interviews mit Republikanern und Loyalisten durchgeführt wurden. Im März 2011 kontaktierte die britische Regierung das US-Justizministerium, was zur Folge hatte, dass eine Sicherstellungsanordnung für alle Aufnahmen dieses Projekts ausgestellt wurde. Seit nunmehr zwei Sicherstellungsanordnungen ausgestellt wurden, begann eine intensive Debatte über wissenschaftliche Forschung, sensible Quellen und das Erbe des Nordirlandkonflikts in den USA und Irland. Bezugnehmend auf diese Debatte diskutiert dieser Artikel die Rolle von Oral History unter sensiblen Umständen wie politischen und bewaffneten Konflikten. Es handelt sich dabei um Feldforschung im sogenannten violent field. Am Beispiel einer Fallstudie zur irisch-republikanischen Frauenorganisation Cumann na mBan wird eine mögliche Methode zur Durchführung und Interpretation sensibler Interviewdaten vorgestellt. Der Artikel bietet einen Beitrag zur Erforschung paramilitärischer Organisationen mittels der Durchführung von Interviews und zugleich eine methodische Einführung in semistrukturierte Experteninterviews im violent field.
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Ernst Jandl Online. Lebenswerk und Leben eines Werkes im digitalen Raum (Vanessa Hannesschläger)
Dieser Beitrag hat die Plattform Ernst Jandl Online zum Thema. Nach einer Einführung zum österreichischen Schriftsteller Ernst Jandl (1925-2000) und zu bisherigen Ansätzen, sein Leben in verschiedenen Formaten zu präsentieren, wird das Konzept der Plattform dargestellt. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei die Frage nach dem Verhältnis von verschiedenartigen Egodokumenten zueinander. Ausgehend davon wird das biographietheoretische Konzept der Website skizziert, die sich einerseits auf das Modell der Anti-Biographie (Nye), andererseits auf die historischen Formen der Biobibliographik stützt. Unter Miteinbeziehung der Akteur-Netzwerk Theorie und Pierre Bourdieus Biographieverständnis werden die konventionellen Ansätze biographischer Narration (Werk- und Leistungsschau, vom Geniegedanken ausgehende Meistererzählung und Entwicklungsgeschichte) hinterfragt und der Versuch beschrieben, sie mit dem datenbasierten Zugang der Plattform zu durchbrechen: Die Zersplitterung des Subjekts im digitalen Raum wird fruchtbar gemacht, indem die „Biographeme“ (Barthes) identifiziert, sichtbar gemacht und neu zusammengefügt werden. Das individuelle Zusammensetzen der Lebenspixel ist dabei Aufgabe der Benutzenden, wodurch der spotlight approach auf Biographierte und Biographierende gleichermaßen gebrochen wird.
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„Einer, der’s gut mit mir meint, vermißte meine Biographie“. Anti/Biographische Affekte um Karl Kraus (Katharina Prager)
Biographien, die den Satiriker Karl Kraus (1874-1936) zum Gegenstand haben, arbeiteten (zumeist unausgesprochen) gegen ein Phänomen, das im vorliegenden Beitrag als „antibiographischer Affekt“ bezeichnet wird: Kraus war Auto/Biographisches suspekt – und dennoch lebte er ein „autobigraphisches Leben“ in Erwartung vieler biographischer Darstellungen seiner Person. In diesem Spannungsfeld standen nicht zuletzt Kraus’ komplexe Selbstdarstellungsstrategien und autobiographische Inszenierungen. Die frühe – oft vorwissenschaftliche – Kraus-Biographik der Nachkriegszeit konstruierte weitgehend unkritisch das exemplary life eines „großen Mannes“ und moralischen Vorbildes und hatte ihre spezifischen identitätspolitischen Gründe dafür. Doch auch in späteren – differenzierteren und auf neuen Quellen basierenden – biographischen Darstellungen blieben und bleiben die Relikte eines (nicht zuletzt geisteswissenschaftlichen) Geniekults spürbar. Auch eine digitale und anti/biographische Vermessung von Karl Kraus, wie sie im Rahmen von „Karl Kraus Online“ (http://www.kraus.wienbibliothek.at) in Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kraus-Biographik sowie mit aktueller Biographietheorie unternommen wurde, stößt an Grenzen. Die hier aufgezeigten Probleme und Möglichkeiten um eine biographische Thematisierung von Kraus sollen als Anregung für neue kritisch-analytische Lebenserzählungen – auch vieler anderer (männlicher) „Geistesheroen“ – dienen.
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