Beschreibung
Während die Pläne der Alliierten und die Literatur des Exils sowie politische Zeitschriften gut erforscht sind, fehlte bisher eine politikwissenschaftlich-ideengeschichtliche Untersuchung und Analyse der vielfältigen Zeugnisse politischen Denkens, die als selbständige Broschüren oder Bücher in den Jahren 1945-1948 in großer Zahl veröffentlicht wurden. Deren exemplarische Analyse ergibt in theoretischer wie inhaltlicher Hinsicht ein breites Spektrum des Umgangs mit einer aus deutscher Sicht kontingenten politischen Zukunft und der Rolle die politisches Entscheiden und Handeln dabei spielen könnten.
Themen sind neben der „Schuldfrage“ die gesellschaftliche (Sozialismus, Kapitalismus, Dritter Weg) und staatsrechtliche (Kleinstaaterei, Föderalismus, Separatismus, Bundesstaat, Demokratie) Zukunft des besetzten Landes.
Die „bedingungslose Kapitulation“ und die Unterstellung des besetzten Landes unter die absolute Kontrolle der Alliierten ab Mai 1945 schuf aus der Sicht in Deutschland lebender Autoren eine völlig ungewisse Zukunft. Würde es überhaupt wieder einen souveränen deutschen Staat geben? Welches Gesellschaftssystem, welche politische Form sollte er annehmen? In erstaunlicher Zahl und Vielfalt haben unmittelbar nach der Besetzung in Deutschland lebende Autoren unterschiedlichster weltanschaulicher Provenienz darauf in selbständigen Büchern und Broschüren Antworten zu geben versucht. Politiktheoretisch interessant ist die jeweilige Wahrnehmung und der Umgang mit der Kontingenz: Vieles wird in Zukunft für möglich gehalten und gedanklich entworfen, dem die spätere Entwicklung nicht gefolgt ist und das bisher vergessen war. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie eine erneute Diktatur zu verhindern sei und welche gesellschaftlichen und politischen Institutionen dafür am besten geeignet wären. Bekannte Autoren wie Friedrich Meinecke, Karl Jaspers, Eugen Kogon, Walter Dirks, Wilhelm Röpke, Alexander Abusch aber auch heute eher vergessene oder später nicht als politische Denker wahrgenommene wie beispielsweise Helmut Schelsky oder Hans Peters werden exemplarisch mit ihrem zeitbedingten politischen Denken vorgestellt und analysiert.
Ideengeschichtlich geht es stets darum, ihr spezifisches politisches Denken auf dem Hintergrund des breiten Spektrums vertretener Weltanschauungen vor dem aktuellen zeitgeschichtlichen Hintergrund hermeneutisch zu rekonstruieren. Thematisch stehen die Rolle und Möglichkeiten politischen Entscheidens und Handelns im Zentrum des Interesses. Vom Marxismus-Leninismus über demokratischen Sozialismus oder das katholische Naturrechts- und Ordodenken bis zur liberalen Demokratie repräsentieren die Autoren die damalige Vielfalt der möglichen Rechtfertigungs- und Begründungsmuster zukünftiger Politikgestaltung. Seperatistische Projekte wie die autonome „Schwäbisch-Alemannische Demokratie“ werden ebenso diskutiert, wie Konföderations- und Bundesstaatslösungen. Der Demokratie wird teilweise mit erstaunlicher Skepsis begegnet, ihre Einführung erscheint aber wegen der alliierten Auflagen für die Zukunft Deutschlands als das einzig Nichtkontingente der unmittelbaren Nachkriegsjahre.
Trotzdem vermittelt die nachträgliche Rekonstruktion der damaligen Wahrnehmungen der geschichtlich offenen Zukunft Deutschlands auch in der Gegenwart das Bewusstsein für die kontingenten Grundlagen der heutigen politischen Gesellschaft, deren demokratische Zukunft keine Selbstverständlichkeit darstellt.
Aus dem Inhalt:
Einleitung
Politisches Denken in der politischen Gesellschaft jenseits der Politikwissenschaft
Kontext und Voraussetzungen politischen Denkens in Deutschland nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschen Reiches
Politik der geistigen Umkehr und Erziehung
Alfred Weber: Politik als Erziehung zum freien Menschentum angesichts des Doppelgesichts der “transzendenten Hintergrundmächte”
Friedrich Meinecke: “Ritonar al segno!” zu Abendland und Goethe
Karl Jaspers: Schuldbekenntnis als “geistig politisches Wagnis am Abgrund”
Felix Schottlaender: Die “Katastrophe” als geheimer Wunsch der Deutschen – und die zukünftige Rettung durch die Frauen
Eugen Kogon: Vom “Fiasko” der Re-education
Das Gemeinwesen neu begründen: Varianten des Föderalismus – auf jeden Fall antiborussisch
Vorbemerkung zur Föderalismusdiskussion in der Nachkriegszeit
Karl Peters: Integration des deutschen Volkes durch eine föderalistische Demokratie “sui generis”
Georg Laforet: Der Föderalismus als organisatorische Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips
Otto Feger: “Schwäbisch-Alemannische Demokratie – ein Staat nur für die Alemannen und Schwaben
Gegen Kapitalismus und Kollektivismus: 3. Wege
Wilhelm Röpke: Die Wettbewerbsordnung als Garant der Freiheit gegen Kollektivismus
Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal): Demokratischer Sozialismus in der Epoche der “hierarchischen Produktionsweise”
Walther Dirks: Die Entscheidung für einen europäischen Sozialismus aus christlicher Verantwortung
Die Sowjetunion als Vorbild
Vorbemerkung zum Verständnis marxistisch-leninistischer Politik und Taktik
Alexander Abusch: Der deutsche “Irrweg” als Folge sozialdemokratischen Verrats
Freiheit im Planstaat
Ernst Niekisch: Vom bürgerlichen Individuum zum “planvoll organiserten Ordnungszustand des Kollektivs”
Helmut Schelsky: Freiheit als “Summe aufbauender Kräfte” einer “sozialen Planwirtschaft”
Epilog: Nichtkontingente Demokratie
Der Autor:
Prof. Dr. Michael Th. Greven, Professor für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg
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